Impressionen an Polens Grenzen

Barbara Cebulla

Impressionen an Polens Grenzen

Auch dieses Jahr reisten wir, eine Gruppe Schwalbacher in unsere polnische Partnerstadt. Das von unseren Freunden aufgestellte Programm war wie immer viel versprechend es führte uns in die nähere und weitere Umgebung von Olkusz.

Krakau ist die wohl faszinierendste Stadt Polens, und ein Besuch dorthin ist für uns obligatorisch. Im schlesischen Katowice haben wir zunächst zwei Siedlungen besichtigt, die heute zum Weltkulturerbe gehören. Die Bergwerksbesitzer ließen sie um 1900 von Berliner Architekten für ihre Bergarbeiter erbauen. - Den Tag im Kreise der Gastfamilie und ihrer Freunde verbringen wir frei von jeglichem Rahmenprogramm. Wir erleben immer wieder aufs neue ihre sprichwörtliche polnische Gastfreundschaft, ihren Alltag und sprechen über ihre Wünsche und Sorgen, die so verschieden von unseren nicht sind. Viel zu schnell verliefen die gemeinsam verbrachten Tage; wir nahmen Abschied von Olkusz und fuhren mit einigen polnischen Freunden zum Wandern in die Waldkarpaten.

Die Waldkarpaten gehören zur ärmsten Region des Landes. Hier sind die Lemken und Boiken, zwei slawische Stämme, seit Jahrhunderten ansässig. Auf der Rundfahrt bekamen wir Einblick in ihre Kultur und Religion, die sich in den vielen Kirchen dokumentiert. Das Wandern in dieser unberührten Natur machte uns viel Freude, trotz der großen Anstrengung, die uns die Touren abverlangten. Auf steilen Pfaden, durch Wälder und blühende Bergwiesen mühten wir uns zum Gipfel hinauf. Dort oben atemlos und erschöpft angekommen entlohnte uns der Blick auf das vor uns ausgebreitete Panorama dieser zauberhaften Bergwelt. Eine Gruppe Studenten fühlte sich nach dem mühevollen Aufstieg noch fit genug, und sie begannen slawische Volkslieder zu singen. Es war ein einmaliges Konzert, das uns geboten wurde hier in der Abgeschiedenheit der Berge. Die Menschen hier singen gern und oft, das haben wir in unserem Wohnort Cisna erlebt und das erlebten wir auch im ukrainischen Lemberg.

Lemberg/L´viv, ist eine europäische Metropole. Auf einem Rundgang erzählte uns der Reiseleiter viel über die wechselvolle Geschichte der Stadt, über die hier lebenden ethnischen Gruppen und ihre Religionen. Zum Programm gehörten auch ein Besuch der Oper Tosca und ein unterhaltsamer Abend mit slawischen Liedern, Spielen und Tanz. Wir erhielten einen Eindruck von einer Stadt, die wir bisher nur dem Namen nach kannten.

Den Organisatoren dieser Reise, den Herren Henryk Bugajski und Pfarrer Henryk Januchta, danken wir herzlich für die informativen und erlebnisreichen Tage. Es war eine harmonische Zeit, die wir gemeinsam mit unseren Freunden verbracht haben, und es war ein weiterer Akzent in den Beziehungen unserer Partnerschaft. Für den nächsten Besuch würden wir uns eine ähnliche Reise wünschen.

Doch bei aller Begeisterung: die Teilnahme der Schwalbacher an den partnerschaftlichen Aktivitäten dürfte größer sein. Dafür zu werben, gibt es in Zukunft noch viel zu tun.

Noch ganz unter dem Eindruck der vergangenen Tage brach ich kurz danach mit einigen Schwalbacher Freunden zu einer Radtour an Neiße und Oder auf. Vor uns lag eine Strecke von mehr als 650 km entlang der deutsch-polnischen Grenze. Meine Freunde traten die Tour nur zögernd und auf mein hartnäckiges Zureden an. Ihre größte Sorge galt der Beschaffenheit der Radwege, was sich jedoch als grundlos erwies. Wir starteten in Zittau.

In Hirschfelde vor der Kirche kamen wir mit einem älteren Mann, der Blumen auf das Grab seiner Frau pflanzte, ins Gespräch. Seit Kriegsende lebt er hier. Sein Geburtsort liegt am anderen Flußufer. Zu den dort lebenden Menschen hat er keinen Kontakt. Sie wurden aus dem Osten Polens angesiedelt und interessieren ihn nicht. Er berichtete uns: ?Wir haben eigene Sorgen. Es gibt hier keine Arbeit. Die Webmanufaktur, die früher 3000 Arbeiter beschäftigte, war nach der Wende nicht mehr konkurrenzfähig, und ein Investor fand sich nicht. Die jungen Leute ziehen weg, hier leben nur noch Alte. Die Zeit in Hirschfelde steht still.? - So wie in Hirschfelde sieht es, außer in einigen Städten mit niedergelassener Industrie, in den meisten Orten an den Grenzflüssen aus. Die Region entvölkert sich.

Große Teile dieser malerischen, unberührten Landschaft stehen unter Naturschutz. Im und über dem Wasser tummeln sich Enten- und Möwenschwärme, und in den Auen staksen Reiher und Storch. Ich war verzaubert von der grün-silbernen Weite unter dem azur-blauen Himmel, der sich in den Wassern widerspiegelte und mit der Erde vereinte. Ich dachte an den Odergott, von dem meine Großmutter oft erzählte. Hier in dieser paradiesischen Landschaft muß Varius seinen Thronsitz haben.

Heiter und losgelöst vom Alltag radelten wir durch diese Idylle. Aus dieser Stimmung rissen uns jäh Kriegsberichte auf Schautafeln. Sie erinnern an die hier im zweiten Weltkrieg tobenden Kämpfe, die kein Adjektiv benennen kann. Es war die Hölle, in der zehntausende deutsche sowie sowjetische Soldaten ihr Leben lassen mußten. Wortlos standen wir lange davor.

Viel Leid und erbitterter Haß entstand in der Bevölkerung durch diese Ereignisse. Zisterzienserinnen aus dem Kloster Marienthal haben eine Internationale Begegnungsstätte eingerichtet. In ihren ehrwürdigen Mauern aus dem 13. Jahrhundert haben sich Gruppen verschiedener Nationalitäten kennen gelernt, dabei Vorurteile abgebaut und verlorenes Vertrauen wieder gewonnen.

Von unseren bisherigen Radtouren war die entlang der Neiße und Oder die schönste. Wir erlebten eine Landschaft, die einzigartig ist, hatten Einblick in die wirtschaftliche Situation und in die ältere und jüngere Geschichte. Unseren Radweg entlang der Oder-Neiße-Linie, die in uns so viele negative Erinnerungen wachruft, säumten Grenzpfähle, die uns darauf hinwiesen, daß hier das Staatsgebiet der Bundesrepublik Deutschland endet und das der Republik Polen beginnt, zweier Staaten die heute Mitglieder eines vereinten Europas sind.   

Schwalbach, Oktober 2010